Irrtumsfähigkeit

In “Universitas” 8/2002 schreibt Reinhard Kahl (Forum der Eberhard von Kuenheim Stiftung):

S. 832: “Macht mehr Fehler und macht sie früher!

Vorweg allerdings: Wenn ich hier den Fehler loben will, ist damit keine Apologie des Falschmachens gemeint. Schon gar kein Plädoyer fürs Luschige, von derArt “Ist ja eh alles egal”. Nein, nichts ist egal. Alles ist besonders. Jedes ist individuell. Und da sind wir wieder beim Fehler, denn, das ist die These, nichts Individuelles ist denkbar ohne ihn. Er ist die so unvermeidliche wie faszinierende Spur des Lebendigen.

Beginnen wir beim alltäglichen Fehlermachen. Eine Erinnerung: “Was hast du da nur wieder für Fehler gemacht?” Gereizte Fragen der Eltern beim Mittagessen. Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe, Latein und Erdkunde erprobt. Nichts falsch machen! Das war hinter all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Im Zweifel so tun, als ob man schon angezogen auf die Welt gekommen ist. Fragen stellen, die der Lehrer beantworten miöchte. Diese Lebensgrammatik durchdrang 13 Jahre den Schülerkörper und ging mächtig gegen den Strich. Das ist inzwischen ein paar Jahre her, und immer noch folgen die Schulen diesem alten Testament. Sein erstes Gebot heißt Stunde für Stunde: “Habe keine andere Lösung neben mir.” Das macht den Unterricht so lernbehindernd. Immerzu geht es um richtig oder falsch.

“Um was denn sonst?”, fragen nun diejenigen zurück, die in diese Kosmologie so nachhaltig eingeführt worden sind, dass sie gar nicht anders denken und fühlen können....

S. 833: Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Wer keine gemacht hat, der hat sich nicht bewegt. Wohin man sieht, zerfällt heute das gnadenlose Misstrauen, das für die ganze Moderne maßgeblich war. Dazu gehörten die Alltagsreligionen der Perfektion, die Rhetorik der Belehrung und die unmenschliche Orthodoxie, dass es nur eine einzige Wahrheit gebe. Sie ermöglichte, den Rest der Welt zu verachten —im Extremfall, ihn vernichten zu wollen. Eine zweite Moderne hingegen, deren Geburt wir miterleben, versteht sich nicht mehr als Ausführung eines Masterplans, sondern als “Folge von Nebenfolgen, wie es der Soziologe Ulrich Beck ausdrückt. Keine Absicht wird mehr rein ausgeführt. Es ist wie beim Fußballspiel: Der Ball kommt selten so an, wie es sich der abgebende Spieler vorgestellt hat. Durch diese Fehler werden fortwährend Optionen geschaffen, unfreiwillig. Die Unschärfe gehört ebenso zum Spiel wie die Absicht zu treffen...”

Da haben wir’s: Irren ist eine Fähigkeit, und ohne Irrtumsfähigkeit gibt’s keine Lernfähigkeit! Und die verhindert. dass dabei rauskommen könnte “je irrer, desto menscher”.

Zum Thema “Lernfähigkeit”:

“Training für Nervenzellen

Ein Muskel wird kräftiger, wenn man ihn regelmäßig nutzt. Ähnlich sieht es im Gehirn aus: Nervenzellen werden kontaktfreudiger, je häufiger sie aktiv sind. Hirnforscher haben herausgefunden, welche Prozesse bei diesem Training eine wesentliche Rolle spielen.
Unser Gehirn ist kein fest verdrahteter Computer - wenn es so wäre, könnten wir nicht lernen. Beispielsweise werden häufig genutzte Signalwege immer weiter ausgebaut. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Synapsen; also die Kontaktstellen zwischen zwei Nervenzellen. An den Synapsen wird das elektrische Signal von der einen zur anderen Zelle weitergereicht. Mehr noch: Häufig genutzte Synapsen funktionieren wie eine Art Verstärker. Selbst sehr schwache Eingangssignale können bei ihnen zu einer starken Erregung der Nachbarzelle führen.
Diese Fähigkeit bekommen Synapsen jedoch nicht in die Wiege gelegt - sie müssen sie erlernen...”

DocCheck Newsletter (Quelle: Uni Bonn, 29.09.2010)

Journal of Neuroscience
(doi: 10.1523/JNEUROSCI.1847-10.2010)

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